Missbrauch des Antisemitismusvorwurfs zur Zerschlagung antirassistischer Räume und Diskurse

In den letzten Monaten hat der Missbrauch des Antisemitismusvorwurfes in einem bedrohlichen Masse zugenommen. Palästinasolidarische Stimmen werden mittels diffamierender Medienberichte und an Entscheidungsträger*innen gerichtete Beschwerdeschreiben systematisch angegriffen und teilweise zum Schweigen gebracht. Dies betrifft Demonstrationen gegen den Genozid in Gaza, öffentliche Äusserungen von Einzelpersonen, akademische Institute mit palästinarelevanten Veranstaltungen, kulturelle Events mit palästinasolidarischen Inhalten, palästinasolidarische Statements von Künstler*innen und linke sowie jüdische Solidarität mit palästinensischen Menschen. Die Angriffe werden gestützt durch eine tendenziell einseitige und teilweise falsch informierte Berichterstattung über den israelischen Genozid an den Palästinenser*innen, fehlende Reflexion in linken Gruppen und in der Schweiz existierende rassistische Strukturen, welche weisse gegenüber nicht-weissen Perspektiven priorisieren.

Es sind Angriffe, die es Israel ermöglichen, den kolonialen Genozid ungebremst voranzutreiben und gleichzeitig im globalen Norden und damit auch in der Schweiz antirassistische und linke Räume in beängstigendem Tempo zu zerschlagen. Beides geschieht mit ausdrücklicher liberaler und teilweise linker Unterstützung. Unter dem Deckmantel der Antisemitismusbekämpfung und der Unterstützung Israels erobern sich rechtsnationale Elemente der Gesellschaft so Diskurshoheit über Orte und Praktiken, die bis vor kurzem als Errungenschaft im Kampf gegen Rassismus und Faschismus galten.

Dass der Antisemitismusvorwurf dermassen missbraucht werden kann, ist nur möglich, weil diese Art des Diskurses schon seit mehreren Jahrzehnten von Zionist*innen und Rechtsbürgerlichen verwendet wird, um palästinasolidarische Stimmen zum Schweigen zu bringen. Zurückgeführt werden kann die Strategie auf die 1970er-Jahre. Als Reaktion auf die Gleichsetzung von Zionismus und Rassismus in der Uno-Resolution 3379 (die Resolution wurde 1991 aufgehoben), begannen zionistische Organisationen (World Zionist Organization, Anti-Defamation League etc.) damit, sich für die Gleichsetzung von Antizionismus mit Antisemitismus einzusetzen. Dies ebnete Israel den Weg, mehr Einfluss auf die Antisemitismusdiskussion weltweit zu nehmen und unter dem Begriff «Neuer Antisemitismus» ein komplett verändertes Verständnis von Antisemitismus zu propagieren. 

Dabei werden historische Definitionen, die vor den 70er-Jahren gültig waren und Antisemitismus als mehrheitlich christlich-europäisches Phänomen beschrieben, in den Hintergrund gerückt oder ignoriert. Ins Zentrum der neuen Antisemitismusdefinition rückt stattdessen Kritik am zionistischen Staat oder die Ablehnung des Existenzrechts Israels. Verortet wird Antisemitismus nun primär in muslimischen Gesellschaften und gilt in Europa als «importiert». 

Die IHRA-Definition, deren Entstehungsgeschichte eng mit israelischer Aussenpolitik verknüpft ist, ist ein prominentes Beispiel einer solchen Definition. Dass es Antisemitismus gibt, der sich hinter Israelkritik versteckt, steht ausser Frage. Israelkritik und Antizionismus jedoch ins Zentrum einer Antisemitismusdefinition zu stellen, ist so problematisch, dass sich im Jahr 2020 über 200 Wissenschaftler*innen mit Schwerpunkt in der Antisemitismusforschung – darunter auch viele jüdische und israelische – zusammengefunden haben, um die «Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus» zu verfassen, welche explizit Israelkritik (inklusive der Beschreibung Israels als siedlerkolonialer Staat) als nicht antisemitisch* einstuft. Solche Bemühungen, die zu einem differenzierten Umgang mit Antisemitismus führen könnten, werden jedoch im Moment von den Diskussionen zu Antisemitismus ausgeschlossen. Währenddessen versucht Israel gemäss einem Haaretz-Artikel vom 16. Januar 2024 das eigene «Versagen in der öffentlichen Diplomatie» in Bezug auf militärische Aktionen in Gaza mit einer Kampagne zu Antisemitismus zu kontern.

Dass sogar linke Organisationen sich aktuell nicht kritischer mit antipalästinensischen Diskursen auseinandersetzen, gegenüber Israel keine klar antikoloniale Haltung einnehmen und sich weigern, sich dem Ruf nach Freiheit für palästinensische Menschen zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer anzuschliessen, macht sie zu Komplizen eines immer mehr in den Faschismus abdriftenden Israels.

Als Kollektiv antifaschistischer, antizionistischer jüdisch-israelischer Menschen in Solidarität mit kolonialisierten Menschen überall auf der Welt sind wir der Meinung, dass ein Kampf gegen Antisemitismus nur dann erfolgreich sein kann, wenn er sich mit Kämpfen gegen andere Rassismen verbindet. Das heisst auch, dass wir die rassistische und koloniale Struktur Israels und anderer kolonialer Staaten benennen und antikoloniale Initiativen wie zum Beispiel BDS unterstützen. Wer hingegen den Antisemitismusvorwurf dazu nutzt, Genozid, Faschismus, Rassismus und Kolonialismus zu rechtfertigen, disqualifiziert sich, überhaupt etwas zu Antisemitismus zu sagen. 

*Die Jerusalemer Erklärung definiert Antisemitismus wie folgt: Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen*Juden als Jüdinnen*Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdisch). https://jerusalemdeclaration.org/wp-content/uploads/2021/03/JDA-deutsch-final.ok_.pdf

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